Vorbemerkung

Gerhard Mercator hat (spätestens) seit 1534 davon geträumt und auch hart daran gearbeitet, den großen Kosmographen des Jahrhunderts zugerechnet zu werden.
Als er sein Ende herankommen sah und erkennen mußte, daß seine (spätestens seit Mitte der 60er Jahre) angedachte Kosmographie nur Stückwerk bleiben würde, stellte er ein letzes Mal die Absichten seiner großen literarischen und kartographischen Produktionen unter dem Titel eines Vorworts zu seiner Kosmographie als "Einleitung in das ATLAS-Werk" - geschrieben vor dem 4. Juni 1593 - zusammen

Von den geplanten fünf Büchern zur Kosmographie - dem ersten Teil des ATLAS-Werkes - ist nur das erste Buch vollendet auf uns gekommen, das Vermächtnis seiner an Erasmus von Rotterdam ausgerichteten christlich-philosophischen Gedanken über die Schöpfung unter dem Titel der "Kosmographischen Gedanken", denen das - ebenfalls unfertig gebliebene - kartographische Lebenswerk als zweiter Teil des ATLAS-Werkes beigefügt ist - beides unter dem Titel "Atlas" versammelt. 

Die Kosmographischen Gedanken [ Atlas sive comographicae meditationes de fabrica mundi (et fabricati figura) ] sind 1994 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung herausgekommen im Mercator-Verlag Duisburg unter dem Titel "Atlas oder Kosmographische Gedanken über die Erschaffung der Welt [und ihrer kartographische Gestalt] von Gerhard Mercator aus Rupelmonde - Kosmograph des erlauchtesten Fürsten von Jülich, Kleve und Berg usw. - Urheberrechtlich geschützt - Duisburg im Klevischen [1595].
Das Vor-Wort zum ATLAS-Werk interessiert aber nicht nur wegen der Absichten sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Ableitung des ATLAS-Titels, dem historiographisch die nachgestellte Tafel eines "ATLAS-Stammbaums" diente:

Unter dem Titel Praefatio in Atlantem, Einleitung in den Atlas (in das ATLAS-Werk) -  - zeigt Gerhard Mercator die Absicht an, den Titanensohn Atlas 

     den Bruder des Hesperus, 
     Sohn ('junior') des Titanen Atlas ('senior') und seiner Gemahlin Pleione, 
     Enkel des Uranos und der Gaia, 
     Urenkel des phönikischen Königs Elius, 
     einen mauretanischen König der 'grauen' Vorzeit, weisheitsliebend, astronomisch bewandert und technisch
     versiert,

zum Titelhelden seiner Kosmographie auszwählen. (Vgl. stemma atlantis:http://www.wilhelmkruecken.de/MERCATOR/2S_MGS.htm.)

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Praefatio in Atlantem
Einführung in den Atlas [in das Atlas-Werk]
Atlas rex Mauretaniae & regio stemmate natus, patrem habuit Terrenum siue indigenam, iuxta Eusebij ex antiquißimis historicis testimonium, qui fuit Caelus cognominatus,  Atlas, König von Mauretanien und [selbst] von königlicher Abkunft, hatte Terrenus, den 'Eingeborenen' [Sohn des Elius], nach dem Zeugnis des Eusebius, hergenommen von den ältesten Historikern, zum Vater. Terrenus wurde auch 'Caelus' [der personifizierte Himmel] genannt.
& matrem Titeam, cognomine Terram,  Seine Mutter war Titea. Ihr Beiname war Terra [Erde].
auum paternum simulque maternum Elium siue Solem regem Phoeniciae,  qui cum vxore Beruth in Biblo habitat ambos insigniter in Astronomia & naturalibus disciplinis versatos, ita ut eruditionis gratia Solis & Caeli nominibus digni haberentur.  Sein Großvater sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits war Elium oder Sol [die Sonne], König Phöniziens, der mit seiner Gattin Beruth in Biblos wohnte. 
Beide - Vater wie Großvater - waren herausragend gebildet in Astronomie und in den Naturwissenschaften; sie wurden daher dieser Bildung wegen auch würdig befunden, den Namen 'Sol' bzw. 'Caelus' zu tragen.
Et quidem Atlas, vt citant veteres, Diodorus lib.4.cap 5. astrologus fuit peritißimus, deque sphaera primus inter homines disputavit. Eben dieser Atlas - wie die Alten anführen (siehe: Diodor 4. Buch, 5. Kapitel) ist ein sehr erfahrener Astronom gewesen und hat als erster Mensch über die Himmelskugel geforscht.
Fratres habuit multos, quos Caelus ex diuersis vxoribus genuit usque ad 45. quorum 17. ex Titea prudentißima, & hominibus multum benefica foemina habuit, quos communi nomine a matre Titanes appellauit; Atlas hatte viele Brüder, bis zu 45 hatte Caelus mit unterschiedlichen Ehefrauen; 17 davon hatte er mit Titea, einer sehr lebensklugen und den Menschen vielfach wohltätig gesinnten Frau, die man ganz allgemein als 'Mutter der Titanen' bezeichnete.
Sorores quoque habuit, inter quas praecipuae fuerunt Basilia, quae fratres omnes suos in gratiam matris educauit proptereaque magnam aiunt matrem appellatam, & Rhea quam Pandoram * dixerunt. Atlas hatte ebenfalls [mehrere] Schwestern, unter denen Basilia wohl die Vorzüglichste war. Da sie alle seine Brüder anstelle [um Willen] ihrer Mutter großzog, sprach man von ihr auch als der 'Großen Mutter'. Unter seinen Schwester war auch Rhea, die man 'Pandora' * nannte.
Basilia autem cum Caelus obijsset, vt prior annis, prudentiaque & virtute reliquis praestantior, communi fratrum & populorum consensu regnum nacta est adhuc virgo, cum nulli antea nupsisset. Nachdem Caelus gestorben war, übernahm Basilia, an Jahren das älteste der Kinder, die alle anderen an Lebenserfahrung und Tugend überragte, mit dem allgemeinen Einverständnis der Brüder und des Volkes das Königreich. Zu der Zeit war sie noch Jungfrau, mit niemandem vorher verheiratet.
Postmodum cupiens regni haeredem relinquere, frati Hyperioni nupsit, ex quo duos peperit liberos, Solem et Lunam, quorum prudentiam admirati Hyperionis fratres, ne ipsius posteris regnum confirmaretur, ipsum obtruncarunt, & Solem adhuc puerum in flumine Eridano suffocarunt. Später hoffte sie ihr Reich einem Erben zu hinterlassen und heiratete also ihren Bruder Hyperion, dem sie zwei Kinder gebar: Sol [Sonne] und Luna [Mond]. Als deren [politische] Umsicht die Brüder des Hyperion befremdete, auf daß ihnen später wohl nicht das Königreich zufallen würde, brachten sie Hyperion um und ertränkten Sol - damals noch ein Knabe - im Eridan.
Tum Caeli filij, quorum nobiliores Atlas & Saturnus erant, inter se partiti sunt regna patris, Alsbald teilten die Söhne des Caelus, unter denen Atlas und Saturn [Kronos] die wohl edelsten waren, das Königreich des Vaters unter sich auf.
Atlanti loca iuxta Oceanum, & Lybiam vsque & fretum Gaditanum contigerunt, vbi mons Atlas & gentes Atlantes ab eo dictae sunt in Mauretania. Dem Atlas fielen die Ländereien nahe beim Ozean zu, die sich von Libyen bis zur Straße von Gades [jetzt: Cadiz; also bis zur Straße von Gibraltar] erstrecken, wo der Berg Atlas und die Völkerschaften in Mauretanien nach ihn 'Atlanteer' genannt werden.
Saturno vero Sicilia ac Libya obvenerunt, qui & postea exosus a suis ob tyrannidem in patrem Caelum commissam, fugit in Italiam, ibi a Iano particeps regnis factus.** Sizilien und Libyen fielen an Saturn. Saturn - von den Seinen gehaßt, weil er sich in tyrannischer Weise gegen seinen Vaters Caelus verschuldet hatte - floh später nach Italien, wo er von Ianus in die Regierungsverantwortung hineingenommen wurde. **
Quia autem Diodorus citat, primum apud Atlantes regnasse Caelum, hominesque antea agros dispersos ad coetum condendaque, vrbes ab eo exhortatos esse, certum est, antiqißimos hos reges esse, Wie Diodorus auch erwähnt, regierte Caelus als Erster über die Atlanteer. Diese lebten vormals verstreut über das Land und wurden von ihm ermuntert, zu Gemeinschaften zusammenzukommen und [erste] Städte zu gründen. Es ist daher gewiß, daß dies die ältesten königlichen Familien sind.
fuit enim Atlantis filius Atlas, pulso fratre Hespero, rex Iberiae, quae post Hispania est dicta, anno post diluuium vniversale738., Hespero in Etruriam fugiente, vbi factus est Iani tutor. So ist auch Atlas [junior], der Sohn des Atlas [senior], im 738. Jahre nach der Großen Flut - nachdem er seinen Bruder Hesperus vertrieben hatte - der König von Iberien gewesen, das man nachmals 'Spanien' genannt hat. Hesperus floh nach Etrurien, wo er der Vormund des Ianus wurde.
Auus Atlantis Elius in Phoenicia regnabat anno a diluuio 662. Elius, der Großvater des Atlas [senior] regierte [noch] im Jahre 662 nach der Sintflut.
Et testatur Diodorus hos reges insignem prudentiam ex natura rerum & contemplatione nactos, simul & humanitati ac pietati assuefactos esse, vt merito dicat Diodorus, Atlantides tum pietatis, tum erga aduenas humanitatis prae caeteris gentibus laudem tulisse, quando vix 22. aut 23. generatione completa, multae continentis partes hominibus adhuc vacuae erant. Diodor bestätigt darüberhinaus, daß diesen Könige hervorragendes Wissen aus der Natur der Dinge und der Anschauung eignete. In gleicher Weise hatten sie sich wahres Menschentum und tiefe Frömmigkeit so anverwandelt, daß - sagt Diodor - den Atlanteern vor allen anderen Völkerschaften Lob auszusprechen war, da zufolge ihrer Verdienstlichkeit in der Frömmigkeit und ihrer Menschlichkeit ankommenden Fremden gegenüber kaum nach 22 oder 23 vollständigen Generationen etliche Teile des Kontinents völlig entvölkert waren.
Habuit Atlas plures filios, sed vnum pietate ac in subditos iustitia humanitateque insignem, quem Hesperum appellauit, qui cum in Atlantis cacumen ad scrutandos astrorum cursus ascendisset, subito a ventis correptus, nequaquam amplius visus est. Atlas [senior] hatte auch mehrere Söhne. Der, den er 'Hesperus' nannte, war besonders ausgezeichnet in seiner Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Als Hesperus den Gipfel des Atlas bestiegen hatte, um den Lauf der Gestirne zu erforschen, wurde er jählings von einem heftigen Wind ergriffen, und man hat ihn niemals wieder gesehen.
Sic Diodorus; sed ego vt dixi regem in Iberia fuisse inuenio, adeoque ventis fecundis in eam traiecisse, vbi ita prudenter & pie vixit, ut cum a fratre in Etruriam fugisset, ob insignem sapientiam & prudentiam, in Iani tutorem & regni administratorem sit constitutus, quae munia frater eius Atlas post Hesperi mortem suscepit. Soweit Diodor. Ich habe aber - wie oben schon erwähnt - herausgefunden, daß Hesperus König in Iberien gewesen ist: ein günstiger Wind hatte ihn nach Iberien übersetzen lassen. Dort lebte er mit Umsicht und in Rechtschaffenheit, bis er vor seinem Bruder nach Etrurien floh, wo er um willen seiner hervorragenden Klugheit und Umsicht zum Vormund des Ianus und als Verwalter des Königreiches eingesetzt wurde; eine Aufgabe, die sein Bruder Atlas nach seinem Tode übernahm.
Hunc Atlantem tam insignem eruditione, humanitate ac sapientia virum mihi imitandum proposui, quo ad ingenium & vires suppetunt, Cosmographiam veluti ex alta animi specula contemplaturus si forte aliquid veritatis in rebus nondum percognitis rimari poßim, quo ad sapientiae studia conferas. Diesen Atlas, ein Mann von so bemerkenswerter Erziehung, Menschlichkeit und auch Weisheit habe ich mir als Vorbild genommen - sofern mein Talent und meine Kräfte ausreichen - , die Kosmographie gleichsam von einem erhabenen Standpunkt des Geistes aus zu betrachten, so daß ich - womöglich - auch einige Wahrheiten in noch verborgenen Dingen aufzustöbern in der Lage bin, damit Du [lieber Leser] etwas zu den [Deinen] Studien [in] der Philosophie beizutragen vermagst.
Et vt Cosmus omnium rerum numerum, species, ordinem, harmoniam, proportionem, virtutes & effectus continet, ita a creatione incipiens, partes eius omnes, quatenus methodica ratio postulat, iuxta creationis ordinem enumerabo, & physice contemplabor [10], quo causae rerum innotescant, ex quibus scientia constat, ex scientia, sapientia quae ad bonos omnia fines dirigit, ex sapientia prouidentia quae finibus facilem viam praestruit: Und gerade so, wie der Kosmos Zahl, Art, Ordnung, Harmonie, Ebenmaß, Kräfte und Wirkungen aller Dinge in sich faßt,  werde ich alle seine Teile - ausgehend von der Schöpfung und wie der methodisch vorgehende Verstand es fordert - gemäß der Reihenfolge [in] der Schöpfung aufzählen und gemäß ihrer Natur betrachten, auf daß die Ursachen der Dinge bekannt werden. Aus diesen besteht [nämlich] die Wissenschaft; und aus der Wissenschaft rührt die Vernünftigkeit her, die alle Ziele zu einem guten Ende befördert; [und] aus der Vernünftigkeit geht das Vorwissen hervor, das zu diesen Zielen einen leichten Weg vorbereitet :
hic erit mihi scopus omnium, deinde suo ordine tractabo caelestia [17], mox astromantica, quae ad diuinationes ex astris pertinent [23], quarto elementaria [28], denique geographica [33], sic totum mundum tanquam in speculo proponam [3], ut ad inueniendas rerum causas, sapientiam & prudentiam assequendam, sint aliqualia rudimenta, & lectorem ad altiores speculationes ducere poßint. Dies wird mir das Ziel von Allem sein. Danach werde ich gemäß ihrer Ordnung die himmlischen Dinge abhandeln, darauf die Astromantik, die sich mit der Weissagung aus den Sternen beschäftigt, zum Vierten werde ich die [vier] Elemente behandeln und zuletzt die geographischen Dinge. Derart werde ich die gesamte Welt gleichsam wie in einem Spiegel vor die Augen Aller hinstellen, auf daß [damit] gewissermaßen erste Proben gemacht sind, die Ursachen der Dinge aufzufinden, höhere Einsicht und genauere Kenntnis vom Wert und Lauf der Dinge in Gang zu setzen, die den Leser zu höheren Betrachtungen [der Dinge] führen mögen.


* Pandora kommt in der Ableitung des Hesiod (Theogonie 570,97ff) als die Begründerin des menschlichen Geschlechts vor; sie wurde von  dem Olympier Hephaistos als erstes Weib erschaffen und wurde die Gattin des Epimetheus
Man vergleiche das Vorkommen von Saturn und Rhea in Anlehnung an Plotin in den Kosmographischen Gedanken = Meditationen I.I.2 Mens.
** Augutinus schreibt Gottestaat 7.Buch 4.Kapitel: "Was Ianus anbelangt, fällt mir freilich nicht gleich etwas ein, was ihm Schande machte . ... Den flüchtigen Saturn nahm er freundlich auf und teilte mit dem Gast sein Reich." Und Macrobius berichtet in seinen Saturnalien I 9, "daß unter ihm alle Häuser bloß durch Religion und Frömmigkeit verwahret gewesen." Die zeitlichen Angaben Plutarchs über die Regierungszeit des Ianus in Italien stimmen mit denen Gerhard Mercators in etwa überein.

*** OCTAVO (D.S.) 1999, S. 57, hat die folgende Übersetzung: "I have set this man Atlas, so notable for his erudition, humaneness, and wisdom as a model for my imitation, so far as my genius and strength suffice, as I begin to contemplate about this book cosmography as though in the lofty mirror of the mind, if by chance I may be able to uncover some truth in matters hitherto obscure, which you might bring to your studies of wisdom."